Gegen die Logik der Guillotine

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Warum die Pariser Kommune die Guillotine verbrannte und wir es auch tun sollten

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Am 6. April 1871 beschlagnahmten bewaffnete Teilnehmer*innen der revolutionären Pariser Kommune die in der Nähe des Gefängnisses in Paris gelagerte Guillotine. Sie brachten sie an den Fuß der Statue Voltaires, wo sie sie zunächst in Einzelteile zerbrachen und anschließend unter dem Applaus einer riesigen Menschenmenge verbrannten.1 Es handelte sich dabei nicht um ein von Politiker*innen inszeniertes Spektakel, sondern um eine populäre Graswurzelaktion. Zu jener Zeit kontrollierte die Kommune Paris, das noch von Menschen aller Klassen bewohnt war. Die französische und die preußische Armee umstellten die Stadt und bereiteten einen Einmarsch vor, um die konservative republikanische Regierung Adolphe Thiers einzusetzen. Unter diesen Umständen war das Verbrennen der Guillotine eine mutige Geste, die die Herrschaft von Terror sowie die Idee, positiver sozialer Wandel könne durch das Abschlachten von Menschen erreicht werden, zurückwies.

»Was?«, sagst du schockiert. »Die Kommunard*innen haben die Guillotine verbrannt? Warum in aller Welt sollten sie das getan haben? Ich dachte, die Guillotine sei ein Symbol der Befreiung!« Warum also? Wenn die Guillotine kein Symbol der Befreiung ist, warum wurde sie dann zu einem Standardmotiv der radikalen Linke in den vergangenen Jahren? Warum ist das Internet voller Guillotine-Memes? Warum singen The Coup »We got the guillotine, you better run« (Wir haben die Guillotine, Ihr haut besser ab!)? Die bekannteste sozialistische Zeitschrift heißt Jacobin, benannt nach den ursprünglichen Befürwortern der Guillotine. Sicherlich ist das alles nicht lediglich eine ironische Parodie der nach wie vor bestehenden Ängste der Rechten in Bezug auf die Französische Revolution.

Die Guillotine hat unsere kollektive Vorstellungskraft in Beschlag genommen. In einer Zeit, in der sich die Gräben innerhalb unserer Gesellschaft in Richtung Bürger*innenkrieg ausweiten, repräsentiert sie kompromisslose blutige Rache. Sie steht für die Idee, dass staatliche Gewalt etwas Gutes sein könnte, wenn nur die richtigen Menschen an der Macht wären.

Jene, die die eigene Machtlosigkeit als gegeben hinnehmen, gehen davon aus, dass sie ohne Konsequenzen grausame Rachefantasien anpreisen können. Aber wenn wir es ernst meinen damit, die Welt zu verändern, sind wir es uns selbst schuldig, sicherzustellen, dass unsere Vorschläge nicht ebenso grausam sind.

Ein Poster in Seattle, Washington. Das Zitat ist von Karl Marx.

Diese Übersetzung stammt aus unserer Textsammlung Writings on the Wall.

Vergeltung

Es überrascht nicht, dass Menschen heute blutige Rache wollen. Die kapitalistische Profitgier macht den Planeten in kürzester Zeit unbewohnbar. Die US-Grenzpatrouillen entführen Kinder, verabreichen ihnen sedierende Medikamente und sperren sie ein. Individuelle Akte rassistischer und frauenfeindlicher Gewalt geschehen regelmäßig. Für viele Menschen ist das tägliche Leben zunehmend erniedrigend und lässt sie sich immer ohnmächtiger fühlen.

Jene, die sich nicht nach Rache sehnen, weil sie nicht mitfühlend genug sind, um schockiert zu sein angesichts der Ungerechtigkeit, oder weil sie schlicht unaufmerksam sind, verdienen dafür keine Anerkennung. Gleichgültigkeit ist von geringerem Wert als die schlimmsten Auswüchse von Rachsucht.

Will ich mich rächen an den Polizeibeamt*innen, die ungestraft morden, an den Milliardären, die Kapital schlagen aus Ausbeutung und Gentrifizierung, an den Fanatiker*innen, die Menschen schikanieren und doxen, also deren persönliche Daten im Internet veröffentlichen? Ja, selbstverständlich will ich das. Sie haben Menschen umgebracht, die ich kannte; sie versuchen alles zu zerstören, was ich liebe. Wenn ich an all das Leid denke, das sie verursachen, ist mir wirklich danach, ihnen ihre Knochen zu brechen, sie mit meinen bloßen Händen umzubringen.

Aber dieses Verlangen unterscheidet sich von meiner Politik. Ich kann etwas wollen, ohne mir dafür mittels Reverse Engineering eine politische Rechtfertigung schaffen zu müssen. Ich kann etwas wollen und mich entscheiden, es nicht weiter zu verfolgen, wenn ich etwas anderes noch mehr will – in diesem Fall eine anarchistische Revolution, die nicht auf Rache basiert. Ich verurteile andere Menschen nicht dafür, Rache zu wollen, insbesondere nicht, wenn sie Schlimmeres hinter sich haben als ich. Dennoch verwechsle ich dieses Verlangen nicht mit einem Plan zur Befreiung.

Wenn die Sorte Blutrausch, die ich beschreibe, dich verängstigt oder dir einfach ungehörig erscheint, dann hast du absolut kein Recht, Witze über andere Leute zu machen, die in deinem Namen industrialisierten Mord begehen.

Genau das unterscheidet die Fantasie von der Guillotine: es geht um Effizienz und Distanz. Jene, die die Guillotine fetischisieren, wollen Menschen nicht eigenhändig umbringen und sind nicht darauf vorbereitet, das Fleisch eines anderen mit den eigenen Zähnen zu zerbeißen. Stattdessen soll ihre Rache automatisiert für sie ausgeübt werden. Wie Konsument*innen, die unbeschwert Hamburger essen, aber niemals persönlich eine Kuh schlachten oder den Regenwald roden könnten. Sie bevorzugen es, wenn das Blutvergießen in geordneten Bahnen vonttattengeht, wenn alle Formulare korrekt ausgefüllt werden, ganz nach dem Beispiel der Jakobiner und Bolschewiken und in Nachahmung der unpersönlichen Funktionsweise des kapitalistischen Staates.

Und noch etwas: Sie wollen die Verantwortung dafür nicht übernehmen. Sie bevorzugen es, ihrer Fantasie ironisch Ausdruck zu verleihen, damit stets plausibel bestritten werden kann, was zuvor gesagt wurde. Wer jemals aktiv an einem sozialen Aufstand beteiligt war, weiß jedoch, wie schmal der Grat zwischen Fantasie und Realität sein kann. Lasst uns einen Blick auf die ›revolutionäre‹ Rolle werfen, die die Guillotine in der Vergangenheit spielte.


»Aber Rache ist eines Anarchisten unwürdig! Die Dämmerung, unsere Morgendämmerung, beansprucht keine Streitereien, keine Verbrechen, keine Lügen; sie bejaht das Leben, die Liebe, das Wissen; wir arbeiten daran, dass dieser Tag schnellstmöglich beginnt.«

-Kurt Gustav Wilckens – Anarchist, Pazifist und Mörder von Colonel Héctor Varela, einem argentinischen Oberst, der ein Massaker an rund 1.500 streikenden Arbeiter*innen in Patagonien befehligte.

Eine sehr kurze Geschichte der Guillotine

Die Guillotine ist mit radikaler Politik verknüpft, weil sie in der ersten französischen Revolution genutzt wurde, um am 21. Januar 1793, einige Monate nach seiner Verhaftung, den Monarchen Ludwig den XVI zu köpfen. Aber wenn die Büchse der Pandora – in diesem Fall der verheerenden Gewalt – einmal geöffnet wurde, ist es schwer, sie wieder zu schließen.

Nachdem Maximilien de Robespierre, einst Präsident der Jakobiner, die Guillotine zunächst als ein Instrument des sozialen Wandels benutzt hatte, setze er ihren Einsatz fort, um die Macht seiner Fraktion der republikanischen Regierung zu konsolidieren. Wie für Demagogen üblich machten Robespierre, Georges Danton und andere Radikale davon Gebrauch, dass sie die Unterstützung der Sansculotten, der wütenden Armen, hatten, um die moderatere Fraktion, die Girondisten, im Juni 1793 von der Macht zu verdrängen. (Die Girondisten waren ebenfalls Jakobiner: Wenn du einen Jakobiner liebst, ist das Beste, was du für ihn tun kannst, seine Partei davon abzuhalten, an die Macht zu gelangen, denn er wäre aller Wahrscheinlichkeit nach der nächste (nach dir), der an die Wand gestellt würde). Nach der Massenguillotinierung der Girondisten machte sich Robespierre daran, seine Macht auf Kosten Dantons, der Sansculotten und einfach allen anderen auszubauen.

»Die revolutionäre Regierung hat nichts gemein mit Anarchie. Im Gegenteil ist ihr Ziel ihre Unterdrückung, um die Herrschaft des Gesetzes zu gewährleisten und zu verfestigen.«

-Maximilien Robespierre, grenzt seine autokratische Regierung von den radikaleren Graswurzelbewegungen ab, die beim Aufbau der französische Revolution geholfen hatten.2

Zu Beginn des Jahres 1794 schickten Robespierre und seine Verbündeten eine große Zahl von Menschen, die mindestens so radikal waren wie sie selbst, unter die Guillotine, darunter Anaxagoras Chaumette und die sogenannten Enragés, Jacques Hébert und die sogenannten Hébertisten, die frühe Feministin und Abolitionistin Olympe de Gouges, Camille Desmoulins (der so frech war, seinem Kindheitsfreund Robespierre vorzuschlagen, dass »Liebe stärker und länger anhaltend ist als Angst«) – und Desmoulins Frau obendrein, obwohl ihre Schwester Robespierres Verlobte gewesen war. Sie sorgten auch für die Guillotinierung von Georges Danton und Dantons Unterstützern sowie diverser anderer früherer Verbündeter. Um all dieses Blutvergießen zu zelebrieren, organisierte Robespierre das Fest des höchsten Wesens, eine öffentliche Pflichtzeremonie, mit der eine erfundene Staatsreligion eingeführt wurde.3

»Hier liegt ganz Frankreich« heißt es in der Grabinschrift hinter Robespierre in dieser politischen Karikatur, mit Bezug auf all die Exekutionen, die er umzusetzen half.

Von da an dauerte es lediglich anderthalb Monate, bis Robespierre selbst guillotiniert wurde, nachdem er zu viele von denen, die an seiner Seite gegen die Konterrevolution hätten kämpfen können, ausgerottet hatte. Dies legte den Grundstein für eine Zeit der Reaktion, die in der Machtergreifung Napoleon Bonapartes und dessen Selbstkrönung zum Kaiser gipfelte. Dem republikanischen Kalender nach (einer Neuerung, die sich nicht durchsetze, aber während der Pariser Kommune kurzzeitig wiedereingeführt wurde) fand die Exekution Robespierres im Monat Thermidor statt. Infolgedessen ist der Name Thermidor auf ewig mit dem Beginn der Konterrevolution verbunden.

»Robespierre tötete die Revolution mit drei Schlägen: der Hinrichtung von Hébert, der Hinrichtung von Danton, dem Kult des höchsten Wesens… der Sieg Robespierres hätte sie alles andere als gerettet, sondern hätte nur einen tieferen und irreparablen Sturz bedeutet.«

-Louis-Auguste Blanqui, selbst mitnichten ein Gegner autoritärer Gewalt.

Aber es ist ein Fehler, sich auf Robespierre zu fokussieren. Robespierre selber war kein übermenschlicher Tyrann. Bestenfalls war er ein eifriger Apparatschik, der eine Rolle ausfüllte, um die zahlreiche Revolutionäre wetteiferten; eine Rolle, die eine andere Person ebenso gespielt hätte, wenn er es nicht getan hätte. Das Problem war systemisch – der Wettbewerb um zentralisierte diktatorische Macht – nicht eine Frage individuellen Fehlverhaltens.

Die Tragödie von 1793-1795 bestätigt, dass jedwedes Werkzeug, das du benutzt, um eine Revolution herbeizuführen, mit Sicherheit gegen dich verwendet werden wird. Aber das Problem ist nicht ausschließlich das Werkzeug, sondern die Logik dahinter. Statt Robespierre – oder Lenin, Stalin oder Pol Pot – zu dämonisieren, müssen wir die Logik der Guillotine auseinandernehmen.

Bis zu einem gewissen Ausmaß können wir nachvollziehen, wie Robespierre und seine Zeitgenossen darauf kamen, sich auf Massenmord als politisches Werkzeug zu verlassen. Sie waren bedroht durch die Invasion eines fremden Heeres, interne Komplotte und konterrevolutionäre Aufstände; sie trafen Entscheidungen in einer extrem stressigen Umgebung. Aber selbst wenn es möglich ist nachzuvollziehen, wie sie dazu kamen, die Guillotine bereitwillig anzunehmen, so bleibt es unmöglich zu argumentieren, all die Morde seien notwendig, um ihre Position abzusichern. Ihre eigenen Exekutionen entkräften das Argument deutlich.

Ebenso falsch wäre anzunehmen, die Guillotine sei hauptsächlich gegen die herrschende Klasse eingesetzt worden – nicht einmal zur Hochzeit der jakobinischen Herrschaft. Als vollkommene Bürokraten führten die Jakobiner detailliert Buch. Zwischen Juni 1793 und Ende Juli 1794 wurden offiziell 16.594 Menschen in Frankreich zum Tode verurteilt, darunter 2.639 in Paris. Von den formal unter dem Terror verhängten Todesstrafen wurden nur sparsame 8 Prozent an Aristokrat*innen ausgeteilt und 6 Prozent trafen Mitglieder des Klerus. Der Rest verteilte sich auf die Mittelschicht und die Armen mit einer großen Mehrheit der Opfer aus den unteren Schichten.

Die Exekution von Robespierre und seinen Kollegen. Robespierre ist jener mit der Nummer 10; im Wagen sitzend, hält er sich ein Taschentuch vor den Mund, da ihn bei der Festnahme ein Kinnschuss getroffen hatte.

Was sich mit der ersten französischen Revolution abgespielt hatte, war kein Zufall. Ein halbes Jahrhundert später vollzog die Französische Revolution von 1848 eine ähnliche Entwicklung. Im Februar verhalf eine von wütenden armen Menschen angeführte Revolution republikanischen Politiker*innen zu staatlicher Macht. Im Juni, als sich herausstellte, dass das Leben unter der neuen Regierung kaum besser war als das Leben unter einem König, revoltierten die Menschen in Paris erneut und die Politiker befahlen der Armee, sie im Namen der Revolution zu massakrieren. Das legte den Grundstein für den Wahlsieg des Neffen Napoleons bei den Präsidentschaftswahlen im Dezember 1848, der versprach, ›Ordnung wiederherzustellen‹. Drei Jahre später, nachdem alle republikanischen Politiker ins Exil geschickt worden waren, schaffte Napoleon III die Republik ab und krönte sich selbst zum Kaiser – womit er Marx zu dessen berühmter Bemerkung veranlasste, dass Geschichte sich selbst immer zweimal wiederhole – »das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce«.

Ähnlich lief es, nachdem die Französische Revolution von 1870 Adolphe Thiers an die Macht brachte: Er schlachtete skrupellos die Pariser Kommune ab, aber auch das ebnete nur den Weg für sogar noch reaktionärere Politiker, die ihn 1873 ersetzten. Diese drei Fälle verdeutlichen, wie Revolutionär*innen, die fest entschlossen sind, staatliche Macht auszuüben, sich die Logik der Guillotine zu eigen machen müssen, um ihr Ziel zu erreichen. Dann, nachdem sie (in der Hoffnung, ihre Kontrolle zu festigen) brutal andere Revolutionär*innen vernichtet haben, werden sie jedoch selbst unvermeidbar von reaktionäreren Kräften bezwungen.

Im 20. Jahrhundert beschrieb Lenin Robespierre als einen Bolschewiken avant la lettre und beschrieb den Terror als Vorgeschichte des bolschewistischen Projekts. Er war nicht der Einzige, der diesen Vergleich zog.

»Wir erschaffen unseren eigenen Thermidor«, so der Apologet des Bolschewismus Victor Serge in Erinnerung an die Verkündung Lenins, als dieser sich darauf vorbereitete, die Rebell*innen von Kronstadt niederzumetzeln. In anderen Worten: Nach der Niederschlagung der Anarchist*innen und allen anderen links von ihnen würden die Bolschewiken überleben, indem sie selbst zur Konterrevolution würden. Sie hatten bereits starre Hierarchien in der Roten Armee wiedereingeführt, um frühere zaristische Offiziere zur Mitarbeit zu rekrutieren. Parallel zum Sieg über den Aufstand in Kronstadt führten sie den freien Markt und den Kapitalismus wieder ein, wenn auch unter staatlicher Kontrolle. Schlussendlich übernahm Stalin das Amt, das einst von Napoleon besetzt worden war.

Die Guillotine ist also kein Instrument der Befreiung. Das war bereits 1795 klar, deutlich über ein Jahrhundert, bevor die Bolschewiken ihren eigenen Terror starteten, fast zwei Jahrhunderte bevor die Roten Khmer rund ein Viertel4 der Bevölkerung von Kambodscha ermordeten.

Warum also ist die Guillotine wieder in Mode gekommen als Symbol für Widerstand gegen Tyrannei? Die Antwort darauf wird uns etwas über die Psychologie unserer Zeit verraten.


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Staatsgewalt als Fetisch

Es ist schockierend, dass sich Radikale sogar heute noch mit den Jakobinern zusammentun würden – eine Tendenz, die bereits Ende 1793 reaktionär war. Aber die Erklärung ist nicht schwer herauszuarbeiten. Denn es gibt (damals wie heute) Menschen, die sich selbst als radikal begreifen wollen, ohne einen wirklich radikalen Bruch mit den Institutionen und Praktiken, die ihnen vertraut sind, herbeiführen zu wollen. »Die Tradition aller toten Generationen lastet wie ein Alp auf den Gehirnen der Lebenden«, wie Marx es ausdrückte.

Wenn – um Max Webers berühmte Definition zu nutzen – sich eine aufstrebende Regierung qualifiziert, den Staat zu repräsentieren, indem sie das Monopol auf die Berechtigung zur Gewaltanwendung in einem bestehenden Gebiet erreicht, dann ist einer der überzeugendsten Wege, ihre Souveränität zu demonstrieren, ungestraft tödliche Gewalt auszuüben. Das erklärt die diversen Berichte über den Effekt, dass öffentliche Enthauptungen während der französischen Revolution als festliche oder sogar religiöse Veranstaltungen wahrgenommen wurden. Vor der Revolution waren Enthauptungen Bekräftigungen der heiligen Autorität der Monarchen; während der Revolution, als die Repräsentanten der Revolution den Exekutionen vorstanden, bekräftige dies, dass sie die Souveränität innehatten – im Namen des Volkes natürlich. »Ludwig muss sterben, damit die Nation leben kann«, hatte Robespierre verkündet, bestrebt, die Geburt des bourgeoisen Nationalismus zu weihen, indem er ihn wörtlich mit dem Blut der vorhergehenden sozialen Ordnung taufte. Ab dem Moment ihrer Einführung auf dieser Basis benötigte die Republik fortlaufend Opfer, um ihre Herrschaft zu bekräftigen.

Hier sehen wir die Essenz des Staates: Er kann umbringen, aber kein Leben geben. Als Konzentration politischer Legitimität und Gewalt, kann er verletzen, aber er kann nicht die Sorte positiver Freiheit herstellen, die Individuen erfahren, wenn sie in Gemeinschaften verwurzelt sind, die auf gegenseitiger Unterstützung aufbauen. Er kann nicht die Art von Solidarität kreieren, die zur Folge hat, dass Harmonie zwischen Menschen wächst. Alles, was wir anderen mit staatlichen Mitteln antun können, können andere uns mit staatlichen Mitteln antun – wie Robespierre auf die harte Tour lernen musste – aber keine*r kann den Gewaltapparat des Staates zum Zweck der Befreiung nutzen.

Als Radikale*r die Guillotine zum Fetisch zu erheben, ist wie den Staat zu fetischisieren: Es bedeutet ein Mordinstrument zu feiern, das immer hauptsächlich gegen uns genutzt werden wird.

Wer einen positiven Bezug zur eigenen Tätigkeit verloren hat, sucht oft nach einem Ersatz, um sich damit zu identifizieren – einem Führer, dessen Gewalt den Platz einnehmen kann für das eigene Verlangen nach Rache als Konsequenz der eigenen Machtlosigkeit. In Zeiten von Trump bekommen wir deutlich zu spüren, wie sich das Leben unter sich entrechtet fühlenden Unterstützer*innen rechter Politik anfühlt. Aber es gibt in der Linken ebenso Menschen, die sich ohnmächtig und wütend fühlen, Menschen, die Sehnsucht nach Rache haben, Menschen, die wollen, dass der Staat, der sie gebrochen hat, gegen ihre Feinde gerichtet werden möge.

»›Tankies‹5 an die Gräuel und den Verrat zu erinnern, die Staatssozialist*innen ab 1917 begingen ist, wie Trump einen Sexisten und Rassisten zu nennen. Die Tatsache zu veröffentlichen, dass Trump ein sexistischer notorischer Grapscher ist, machte ihn nur noch beliebter bei seiner frauenfeindlichen Basis; ebenso kann die bluttriefende Geschichte des autoritären Parteisozialismus diesen nur noch attraktiver machen für jene, die hauptsächlich vom Verlangen motiviert sind, sich mit etwas Mächtigem zu identifizieren.«

-Anarchists in the Trump Era

Heute, da die Sowjetunion bereits seit fast 30 Jahren verstorben ist – und der Schwierigkeit geschuldet, Informationen aus erster Hand von der ausgebeuteten chinesischen Arbeiterklasse zu erhalten –, erleben viele Menschen in Nordamerika autoritären Sozialismus als ein komplett abstraktes Konzept, so weit weg von ihrer erlebten Erfahrung wie Massenexekutionen mit der Guillotine. Sie wünschen sich nicht ausschließlich Rache, sondern darüber hinaus einen Erlöser, um sie sowohl aus dem Alptraum des Kapitalismus als auch aus der Verantwortung, selbst eine Alternative dazu aufbauen zu müssen, zu erretten. Sie erträumen den autoritären Staat als den Erlöser, der in ihrem Namen kämpfen könnte. Erinnern wir uns an das, was George Orwell über die bequemen britischen stalinistischen Autoren der 1930er in seinem Essay »Im Inneren des Wals« sagte:

»Menschen dieser Art sind Dinge wie Säuberungen, Geheimpolizei, standrechtliche Hinrichtungen, Haft ohne Verfahren etc., etc. viel zu fremd, um furchteinflößend zu sein. Sie können Totalitarismus schlucken, weil sie keinerlei Erfahrungen außer Liberalismus haben.«

Die Schuldigen bestrafen

»Vertraut Visionen, die nicht mit eimerweise Blut ausgestattet sind«

-Jenny Holzer

Im Großen und Ganzen tendieren wir dazu, uns des Unrechts, das uns angetan wird, stärker bewusst zu sein, als des Unrechts, dass wir anderen antun. Wir sind gefährlicher, wenn wir das Gefühl haben, uns wurde das meiste Unrecht angetan, da wir uns dann am stärksten berechtigt fühlen, selbst zu urteilen, selbst grausam zu sein. Je mehr wir uns im Recht fühlen, desto vorsichtiger sollten wir sein, nicht die Muster der Justizmaschinerie zu wiederholen, die Annahmen des Gefängnisstaates, die Logik der Guillotine. Aber das rechtfertigt abermals nicht Untätigkeit; es geht nur darum zu sagen, dass wir besonders dann, wenn wir uns am meisten im Recht fühlen, besonders kritisch vorgehen müssen, damit wir nicht die Rolle unserer Unterdrücker übernehmen.

Wenn wir uns selbst mehr im Kampf gegen spezifische menschliche Wesen als gegen soziale Phänomene wahrnehmen, wird es schwieriger, jene Momente zu erkennen, in denen wir selbst an diesen sozialen Phänomenen teilnehmen. Wir externalisieren das Problem als eines außerhalb von uns selbst, personifizieren einen Feind, der geopfert werden kann, um uns selbst symbolisch zu reinigen. Doch was wir selbst den Schlimmsten von uns antun, wird möglicherweise allen anderen von uns angetan werden.

Als ein Symbol der Vergeltung führt die Guillotine uns in Versuchung, uns vorzustellen, wir seien die Richtenden, gesalbt mit dem Blut des Bösen. Die christliche Logik von Rechtschaffenheit und Verdammung ist essenziell in diesem Bild. Im Gegenteil sollte uns die Guillotine, wenn wir sie nutzen wollen, um irgendwas zu symbolisieren, an die Gefahr erinnern, zu dem zu werden, was wir hassen. Das Beste wäre, wenn wir in der Lage wären, ohne Hass zu kämpfen. Aus einem optimistischen Glauben in das unglaublich große Potenzial der Menschheit.

Um den Hass auf eine Person zum Erlöschen zu bringen, reicht es oft aus, dieser Person die Möglichkeit zu nehmen, für dich auf irgendeine Weise eine Bedrohung darzustellen. Wenn jemand bereits deiner Macht ausgeliefert ist, ist es verachtenswert, ihn*sie umzubringen. Das ist der ausschlaggebende Moment einer jeden Revolution, der Moment, an dem die Revolutionär*innen die Möglichkeit haben, unnötig Rache zu üben, auszurotten statt schlicht zu siegen. Wenn sie diesen Test nicht bestehen, wird ihr Sieg tragischer sein als jedes Scheitern.

Die schlimmste Strafe, die wir denen, die uns heute regieren, schikanieren und kontrollieren, zufügen könnten, wäre, sie dazu zu nötigen, in einer Gesellschaft zu leben, in der alles, was sie getan haben, als beschämend betrachtet wird – sie müssten in Versammlungen sitzen, in denen ihnen kein Mensch zuhört, sie müssten weiter unter uns leben, ohne Privilegien und in vollem Bewusstsein all der Schäden, die sie verursacht haben. Wenn wir von irgendetwas fantasieren, dann lasst uns darüber fantasieren, unsere Bewegungen so stark zu machen, dass wir kaum jemanden werden umbringen müssen, um den Staat zu stürzen und den Kapitalismus abzuschaffen. Das passt auch besser zu unserer Würde als Partisan*innen der Befreiung.

Es ist möglich, sich einem revolutionären Kampf mit allen nötigen Mitteln zu verpflichten, ohne das Leben geringzuschätzen. Es ist möglich, den scheinheiligen Moralismus des Pazifismus zu meiden, ohne dabei eine zynische Begierde nach Blut zu entwickeln. Wir müssen die Fähigkeit entwickeln, Macht auszuüben, ohne Macht über andere als unser wahres Ziel misszuverstehen, das darin besteht, kollektiv die Bedingungen für wirkliche Freiheit für alle zu erschaffen.

»Daß der Mensch erlöst werde von der Rache: das ist mir die Brücke zur höchsten Hoffnung und ein Regenbogen nach langen Unwettern.«

-Friedrich Nietzsche (selbst kein Partisan der Befreiung, aber einer der führenden Theoretiker der Gefahren der Rachsucht)

Kommunard*innen verbrennen die Guillotine als ein »serviles Instrument monarchistischer Herrschaft« am Fuße der Statue Voltaires in Paris am 6.April 1871.

Anstelle der Guillotine

Selbstverständlich ist es zwecklos, an das Gewissen unserer Unterdrücker zu appellieren, solange es uns noch nicht gelungen ist, zu verhindern, dass sie davon profitieren, uns zu unterdrücken. Die Frage ist, wie wir das erreichen.

Apologeten der Jakobiner werden protestieren, dass, unter den Umständen, jedenfalls etwas Blutvergießen notwendig gewesen sei, um die revolutionären Sache voranzubringen. Praktisch alle revolutionären Massaker in der Geschichte wurden mit der Notwendigkeit gerechtfertigt – so rechtfertigen Menschen Massaker immer. Selbst wenn etwas Blutvergießen notwendig wäre, würde das immer noch nicht entschuldigen, in einen Blutrausch zu verfallen und dies zum revolutionären Wert zu erheben. Wenn wir uns wünschen, Zwangsmittel verantwortlich einzusetzen, nämlich nur dann, wenn es keine andere Wahl gibt, dann sollten wir zumindest Abscheu davor entwickeln.

Haben uns Massenmorde je geholfen, unsere Sache voranzubringen? Die verhältnismäßig wenigen Hinrichtungen, die Anarchist*innen durchführten – so wie der Mord an den profaschistischen Klerikalen im spanischen Bürgerkrieg –, haben es unseren Gegnern ermöglicht, uns im schlechtesten Licht darzustellen, selbst wenn sie für zehntausendmal so viele Morde verantwortlich sind. Reaktionäre haben Revolutionäre im Verlauf der Geschichte stets mit zweierlei Maß gemessen; sie verzeihen dem Staat, Millionen Zivilist*innen umzubringen, während sie Aufständische zur Rechenschaft ziehen, wenn die auch nur ein Fenster einschlagen. Die Frage ist nicht, ob sie uns populär gemacht haben, sondern ob sie einen Platz in einem Projekt der Befreiung haben. Wenn wir Transformation anstreben statt Eroberung, sollten wir unsere Siege nach einer anderen Logik beurteilen als Polizei und Militär, denen wir uns gegenübersehen.

Dies ist keine Argumentation gegen die Nutzung von Gewalt. Es geht vielmehr um die Frage, wie wir sie nutzen können, ohne neue Hierarchien und neue Formen systematischer Unterdrückung aufzubauen.

Eine Systematik revolutionärer Gewalt.

Das Bild der Guillotine ist Propaganda für die Art autoritärer Organisierung, die aus diesem bestimmten Werkzeug Nutzen ziehen kann. Jedes Werkzeug impliziert die Formen sozialer Organisierung, die notwendig sind, um es zu nutzen. In seinen Memoiren Bash the Rich zitiert Ian Bone, Veteran von Class War, John Barker, Mitglied der Angry Brigade, dahingehend, dass »Mollies weitaus demokratischer sind als Dynamit«. Barker schlägt vor, dass wir jedes Widerstandswerkzeug anhand der Frage analysieren sollten, wie es Macht strukturiert. Alfredo Bonanno und andere Insurrektionalist*innen kritisierten das von hierarchischen autoritären Gruppen in Italien übernommene Modell des bewaffneten Kampfes und betonten, dass Befreiung nur durch horizontale, dezentralisierte und partizipatorische Widerstandsmethoden erreicht werden könne.

»Eine Revolution kann man nicht nur mit der Guillotine machen. Die Rachsucht ist das Vorzimmer der Führung und wer sich rächen will, braucht eine Chefin. Jemanden, der die Leute zum Sieg führt und der die verletzte Gerechtigkeit wiederherstellt.«

-Alfredo Bonanno, Die bewaffnete Freude

Mit Riots können Gruppen von Menschen gemeinsam eine autonome Zone verteidigen oder ohne die Notwendigkeit hierarchischer zentralisierter Führung Druck auf Autoritäten ausüben. Wenn das unmöglich wird – wenn die Gesellschaft in zwei getrennte Lager zerbrochen ist, die darauf vorbereitet sind, sich mit militärischen Mitteln gegenseitig abzuschlachten –, können wir nicht länger von Revolution sprechen, sondern nur noch von Krieg. Die Voraussetzung von Revolution ist, dass Subversion sich jenseits feindschaftlicher Linien verbreiten kann, festgeschriebene Positionen destabilisiert, Loyalitäten und Annahmen unterläuft, die Herrschaft untermauern. Wir sollten uns niemals beeilen, den Übergang von revolutionären Unruhen zur Kriegsführung zu vollziehen. Es zu tun, verschließt Möglichkeiten meist eher, als dass es welche eröffnet.

Als Werkzeug nimmt die Guillotine als gegeben an, dass es unmöglich sei, die Beziehung zum Gegner zu ändern – die einzig verbleibende Möglichkeit ist seine Beseitigung. Darüber hinaus besteht die Logik Guillotine darauf, das Opfer sei bereits vollständig in der Macht der Menschen, die sie nutzen. Verglichen mit den großen Errungenschaften kollektiver Courage, die Menschen gegen enorme Ungleichheiten in Massenaufständen erkämpften, ist die Guillotine eine Waffe für Feiglinge.

Indem wir uns weigern, all unsere Gegner pauschal abzuschlachten, halten wir die Möglichkeit offen, dass sie eines Tages Teil unseres Projektes zur Veränderung der Welt werden. Selbstverteidigung ist notwendig, aber wo immer wir können, sollten wir das Risiko eingehen, unsere Widersacher am Leben zu lassen. Es nicht zu tun, garantiert, dass wir um nichts besser sein werden, als die schlimmsten von ihnen. Aus einer militärischen Perspektive ist das ein Hindernis; aber wenn wir wirklich Revolution anstreben, ist dies der einzige Weg.


Befreiung, nicht Auslöschung

»Unsere Aufgabe ist es, den vielen Unterdrückten Hoffnung und den wenigen Unterdrückern Furcht einzuflößen; wenn wir das Erstere tun und den Vielen Hoffnung einflößen, so müssen die Wenigen durch deren Hoffnung in Schrecken gesetzt werden; auf andere Weise wollen wir sie gar nicht in Furcht versetzen, denn nicht Rache wünschen wir für die Armen, sondern Befriedigung; welche Rache könnte man in der Tat für all die tausendjährigen Leiden der Armen nehmen?«

-William Morris, Wie wir leben und wie wir leben könnten

Also weisen wir die Logik der Guillotine zurück. Wir wollen unsere Gegner nicht auslöschen. Wir glauben nicht, dass ein Weg zur Harmonie darin besteht, jede*n, der/die unsere Ideologie nicht teilt, von der Erde zu entfernen. Unsere Vision ist eine Welt, in der viele Welten Platz haben, wie Subcomandante Marcos es ausdrückte – eine Welt, in der das einzig Unmögliche ist, zu herrschen und zu unterdrücken.

Anarchismus ist ein Vorschlag für jede*n, wie wir unsere Leben verbessern können – für alle Angestellten und Arbeitslosen, Menschen aller ›Ethnien‹, Gender, Nationalitäten und für alle, die in keiner dieser Kategorien vertreten sind; ein Vorschlag für Arme und Milliardär*innen gleichermaßen. Der anarchistische Vorschlag ist nicht im Interesse einer momentan existierenden Gruppe gegen eine andere: er ist kein Weg, die Armen auf Kosten der Reichen zu bereichern oder einer ›Ethnie‹, Nationalität oder Religion auf Kosten anderer mehr Macht zu geben. Diese ganze Art zu denken, ist Teil dessen, aus dem wir auszubrechen versuchen. All die ›Interessen‹, die vermeintlich unterschiedliche Kategorien von Menschen ausmachen, sind Produkte der bestehenden Ordnung und müssen mit ihr transformiert werden, nicht erhalten oder begünstigt.

Aus unserer Perspektive sind sogar die höchsten Positionen von Reichtum und Macht, die in der bestehenden Ordnung existieren, wertlos. Nichts von dem, was Kapitalismus und Staat anzubieten haben, ist für uns von irgendeinem Wert. Unser Vorschlag ist anarchistische Revolution, da sie endlich Sehnsüchte erfüllen könnte, die die bestehende soziale Ordnung niemals befriedigen wird: den Wunsch, sich und den Liebsten etwas zu bieten, ohne es auf Kosten anderer zu tun; den Wunsch, Wertschätzung für die eigene Kreativität und den eigenen Charakter zu erfahren, statt dafür, wie viel Profit wir generieren können; das Bedürfnis, das eigene Leben rund um das zu strukturieren, was wirklich Spaß macht, anstatt auf der Basis von Konkurrenz.

Wir behaupten, dass alle, die jetzt leben, ein Auskommen haben könnten – wenn kein gutes, dann wenigstens ein besseres –, wenn wir nicht im Nullsummenspiel von Politik und Wirtschaft gezwungen wären, um Macht und Ressourcen zu konkurrieren.

Überlassen wir es Antisemit*innen und anderen Fanatikern, den Feind als eine bestimmte Art von Menschen zu beschreiben, und alles, wovor sie sich fürchten, als das Andere zu personifizieren. Unser Gegenspieler ist nicht eine bestimmte Sorte Mensch, sondern die Form sozialer Beziehungen, die Widerstreit zwischen Menschen zum grundlegenden Modell für Politik und Wirtschaft erhebt. Die herrschende Klasse abzuschaffen, bedeutet nicht, alle Menschen zu guillotinieren, die momentan eine Yacht oder ein Penthouse besitzen; es bedeutet, es unmöglich zu machen, dass irgendjemand systematisch Zwangsmaßnahmen gegen andere ausübt. Sobald das unmöglich ist, wird keine Yacht und kein Penthouse lange leerstehen.

Und was unsere direkten Widersacher angeht – jene spezifischen Menschen, die fest entschlossen sind, die bestehende Ordnung um jeden Preis aufrecht zu erhalten –, so streben wir an, sie zu besiegen, nicht sie auszulöschen. So selbstsüchtig und habgierig sie auch scheinen, so ähneln doch manche ihrer Werte unseren, und die meisten ihrer Fehler – wie auch unserer – entstehen aus ihren Ängsten und ihren Schwächen. In vielen Fällen stellen sie sich gegen die Vorschläge der Linken genau wegen der inhärenten Widersprüche – zum Beispiel die Idee, das eine solidarische Weltgemeinschaft mittels Zwangsmaßnahmen herbeigeführt werden könne.

Selbst wenn wir uns mit unseren Gegner*innen in einen körperlichen Kampf stürzen, sollten wir einen tiefen Glauben an ihr Potenzial bewahren, denn wir hoffen, eines Tages in anderen Beziehungen zu ihnen zu leben. Als Revolutionär*innen ist diese Hoffnung unsere kostbarste Quelle, die Grundlage von allem, was wir tun. Wenn revolutionärer Wandel sich in der Gesellschaft und weltweit verbreiten soll, so werden diejenigen, die wir heute bekämpfen, morgen schon an unserer Seite kämpfen müssen. Wir predigen weder den Wandel mit dem Schwert, noch stellen wir uns vor, unsere Gegner*innen auf einem abstrakten Markt der Möglichkeiten zu überzeugen; stattdessen zielen wir darauf, die Arten wie sich Kapitalismus und der Staat derzeit selbst reproduzieren zu unterbrechen und gleichzeitig die Vorzüge unserer Alternative umfassend und ansteckend zu demonstrieren. Es gibt keine Abkürzungen, wenn es um dauerhafte Veränderung geht.

Gerade weil es in unseren Konflikten mit den Verteidigenden der herrschenden Ordnung manchmal notwendig ist, Gewalt anzuwenden, ist es besonders wichtig, dass wir niemals unsere Hoffnung, unser Mitgefühl und unseren Optimismus aus den Augen verlieren. Wenn wir gezwungen sind, körperliche Gewalt anzuwenden, so ist die einzig mögliche Rechtfertigung, dass dies ein notwendiger Schritt ist, um eine bessere Welt für alle aufzubauen – einschließlich unserer Feind*innen – oder jedenfalls ihrer Kinder. Ansonsten riskieren wir, die nächsten Jakobiner zu werden, die nächsten Schänder der Revolution.

»Die einzig wahre Rache, die wir womöglich haben könnten, wäre uns aus eigener Kraft zum Glück zu bringen.«

-William Morris, als Antwort auf Aufrufe zur Rache für Polizeiangriffe auf Demonstrationen am Trafalgar Square

Voltaire applaudiert der Verbrennung der Guillotine während der Pariser Kommune.


Anhang: Die Enthaupteten

Die Guillotine beendete ihre Karriere weder mit dem Abschluss der ersten französischen Revolution, noch als sie während der Pariser Kommune verbrannt wurde. Tatsächlich wurde sie in Frankreich bis 1977 vom Staat als Mittel zum Vollzug der Todesstrafe genutzt. Eine der letzten Frauen, die auf der Guillotine starb, wurde exekutiert, weil sie Abtreibungen anbot. Die Nazis brachten zwischen 1933 und 1945 rund 16.500 Menschen mit der Guillotine um – ebenso viele Menschen, wie zu Hochzeiten des Terrors in Frankreich umgebracht wurden.

Einige Opfer der Guillotine:

  • Ravachol (geboren François Claudius Koenigstein), Anarchist
  • Auguste Vaillant, Anarchist
  • Emile Henry, Anarchist
  • Sante Geronimo Caserio, Anarchist
  • Raymond Caillemin, Étienne Monier and André Soudy, verurteilt als anarchistische Mitglieder der sogenannten Bonnot Bande
  • Mécislas Charrier, Anarchist
  • Felice Orsini, der versuchte Napoleon III umzubringen
  • Hans und Sophie Scholl sowie Christoph Probst—Mitglieder der Weißen Rose

Emile Henry.

Sante Geronimo Caserio.

André Soudy, Edouard Carouy, Octave Garnier, Etienne Monier.

Hans und Sophie Scholl und Christoph Probst.

»Ich bin ein Anarchist. Wir wurden in Chicago gehängt, in New York auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet, in Paris guillotiniert und in Italien erdrosselt und ich werde meinen Kamerad*innen folgen. Ich lehne eure Regierung und eure Obrigkeit ab. Nieder mit ihnen. Tun Sie ihr Schlimmstes. Lang lebe die Anarchie.«

-Chummy Fleming


Weiterführendes

The Guillotine At Work, GP Maximoff

Ich weiss, wer den Kommissar Luigi Calabresi getötet hat , Alfredo M. Bonanno

Der Streit der Kritik mit Kirche und Staat, Edgar Bauer



Diese Übersetzung ist ursprünglich in Writings on the Wall erschienen. Ein gekürzter Vorabdruck erschien in der analyse & kritik, Nummer 671 (18.05.2021).

  1. Wie im Journal officiel der Pariser Kommune dokumentiert:

    »Am Donnerstag um neun Uhr morgens begab sich das 137. Bataillon, welches zum 11. Arrondissement gehört, in die Rue Folie-Mericourt. Sie verlangten und beschlagnahmten die Guillotine, zerbrachen die abscheuliche Maschine in Teile und verbrannten sie unter dem Applaus einer gewaltigen Menge. Sie verbrannten sie am Fuße der Statue des Verteidigers von Sirven und Calas, dem Apostel der Menschlichkeit, dem Vorboten der Französischen Revolution, am Fuße der Statue Voltaires.«

    Dies wurde zuvor mit folgender Bekanntmachung angekündigt:

    »Bürgerinnen und Bürger,

    wir wurden informiert über die Konstruktion eines neues Types Guillotine, der von der abscheulichen Regierung (der konservativen republikanischen Regierung unter Adolphe Thiers) in Auftrag gegeben wurde – eine, die leichter zu transportieren und schneller ist. Das Unterkomittee des 11. Arrondissement hat die Beschlagnahme dieses servilen Instruments monarchistischer Herrschaft angeordnet und dafür gestimmt, es ein für alle Mal zu zerstören. Es wird daher am 6. April 1871 um 10 Uhr auf dem Place de la Mairies verbrannt werden für die Reinigung des Arrondissements und die Weihung unserer neuen Freiheit.« 

  2. Wie wir an anderer Stelle bereits darlegten, dient die Fetischisierung der ›Herrschaft des Gesetzes‹ oft dazu, Grausamkeiten zu rechtfertigen, die ansonsten als entsetzlich und ungerecht wahrgenommen würden. Die Geschichte zeigt immer wieder, wie zentralisierte Regierungen Gewalt in viel größerem Umfang verüben können als irgendetwas, das aus ›unorgansiertem Chaos‹ entsteht. 

  3. Ekelerregenderweise hat mindestens ein Mitarbeiter des Jacobin Magazins sogar versucht, diesen Vorboten der schlimmsten Exzesse des Stalinismus zu rehabilitieren, indem er vorschlug, eine staatsmandatierte Religion könne einem autoritären Atheismus vorzuziehen sein. Die Alternative sowohl zu autoritären Religionen als auch zu autoritären Ideologien, die Islamfeindlichkeit und ähnliches fördern, besteht nicht darin, dass ein autoritärer Staat eine eigene Religion durchsetzt, sondern im Aufbau von Graswurzel-Solidarität zur Verteidigung der Gewissensfreiheit über politische und religiöse Grenzen hinweg 

  4. Andere Zahlen sprechen von einem Drittel der Bevölkerung, andere von weniger. Eine empfehlenswerte Textsammlung dazu: Alexander Goeb: »Das Kambodscha-Drama« 

  5. Jene, die sich vollumfänglich wahlweise positiv auf Stalin, Mao, die UdSSR und / oder die VR China beziehen.